ANTON THIEL
physiognomische Basaltherapie

Ein Projekt zur Therapie kommunikativer Störungen.
Über die Ästhetik des Gesichts


Was versteht man unter physiognomischer Basaltherapie?

Das Gesicht ist dem Menschen als Grundmuster eingeschrieben. Es stellt so etwas wie eine Grundvoraussetzung des menschlichen Selbstverständnisses dar. Das vorliegende Projekt versucht den Nachweis zu erbringen, dass über das Angesicht Heilungsprozesse aktiviert werden können, die nach herkömmlichen Vorstellungen nicht zu behandeln sind. Ausgangspunkt ist die persönliche Zuwendung, also ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Da ein therapeutisch geschultes Personal nicht immer anwesend sein kann, wird das Gesicht des Gegenübers auf eine künstlerisch-fiktionale Ebene gehoben. Diese Methode der Substitution entspricht in etwa den Methoden, die im religiösen Bereich der Zuwendung an eine Ikone einnimmt. Diese Übertragung beinhaltet natürlich auch eine Art der Konzentration durch archetypische Stilisierung und deren beliebige Wiederholbarkeit, gekoppelt mit akustischen Signalen. Dennoch werden in die vom Patienten abrufbare oder ihm dargebotenen Gesichtssequenzen Teile eingebaut, die ihm vertraut sind und an basale Erinnerungsschichten appellieren. In Folge sollen durch ein cerebrales Computerinterface die einzelnen Sequenzen auch steuerbar sein. Der Patient greift also durch Vorliebe für bestimmte Abschnitte der animierten physiognomischen Studien aktiv in den Ablauf der Präsentation ein. Die Zuwendung gegenüber der Präsentation stärkt in Folge sein kommunikatives Verhalten.

Das Projekt definiert sich also auf unterschiedlichen Ebenen und bringt verschiedene Bereiche zusammen:

  1. Die analoge künstlerische Ebene. Wie lassen sich Gesichtsformen so generieren, dass sie in die Grundschichten menschlicher Psyche eindringen? Wie lässt sich eine archetypische Physiognomie entwickeln, die so idealisiert ist, dass sie allgemein akzeptiert wird, und gleichzeitig so individualisieren, dass sie die Identifikationsmuster der Erinnerung aktiviert?
  2. Die digitale künstlerische Ebene. Wie lassen sich diese physiognomischen Einzelbilder in eine Animation überfüh-ren, die auch noch bei starken Gehirnschädigungen und gestörten Wahrnehmungsfähigkeiten wirksam ist? Wie müssen Verzweigungen der Präsentationsabläufe strukturiert sein, dass sie auch im ungünstigsten Fall noch nachvollzogen werden können? Welche spielerischen Formen kommunikativer physiologischer Gesten sind zu entwickeln, die günstig auf die basalen Wahrnehmungsfähigkeiten einwirken?
  3. Die musikalische/akustische Ebene. Bilder alleine sind zu wenig. Nur im Kontext mit Geräuschen, Tönen, Melodien und Sprache werden die dargebotenen Gesichtessequenzen erst richtig aktiv.
  4. Die medizinische Ebene. Die Forschung im Bereich basaler Grundkonstellationen steckt noch weitgehend in den Kinderschuhen. Ein deutliches Umdenken im Bereich der therapeutischen Zuwendung ist erkennbar. Wie kann die persönliche Zuwendung des Pflegepersonals mit physiognomischer Basaltherapie gekoppelt werden?
  5. Die psychologische Ebene. Die Bedeutung archetypischer Muster (Gesicht) auf die Psyche des Menschen.
  6. Die technische Ebene. Die Übertragung und Produktion der Gesichtssequenzen in das Computermedium stellt noch keine große Herausforderung dar. Schwieriger ist es ein funktionierendes Interface zwischen Mensch und Maschine herzustellen, wobei die herkömmlichen Steuerungsmethoden bei der schweren Beeinträchtigung der Patienten nicht in Frage kommen. Vielmehr ist ein Interface einzusetzen, das direkt auf die cerebralen Reaktionen des Patienten reagiert. Wie können Varianten der physiognomischen Sequenzen angesteuert und aufgerufen werden, sodass es zu einer aktiven kommunikativen Situation kommt?

Autistischen Neugeborenen fehlt die angeborene Präferenz, die Aufmerksamkeit eher auf Gesichter als auf Gegenstände richten. Viele autistische Kinder entwickeln die Fähigkeiten zum Verständnis von Gesichtsausdrücken und nonverbalem Verhalten nicht. Gehirn-Bildgebungsverfahren haben gezeigt, dass autistische Kinder visuelle Information über Gesichter in den selben Gehimregionen verarbeiten, in denen sie auch die Informationen über Gegenstände auswerten. Darüber hinaus scheinen autistische Kinder nicht in der Lage zu sein, aus dem Gesagten oder den Taten anderer Information zu gewinnen bzw. Rückschlüsse auf Ab- oder Einsichten anderer zu schließen.

zitiert nach sience ORFat, 2006

Patienten in geriatrischer Betreuung: Demenz betrifft zunächst die Aufnahme bzw. das Wiedergeben neuer gedanklicher Inhalte, da die Orientierung (wo bin ich, was passiert gerade), die Urteils- aber auch die Sprachfähigkeit und Teile der Persönlichkeit zerstört werden. Etwa acht bis 13 Prozent aller Menschen über 65 Jahre leiden unter einer Demenz. Auf welchen Grundlagen baut die physiognomische Basaltherapie auf? psychosoziale Beobachtungen

Gesichter fesseln uns von Geburt an. Neugeborene, die noch nie ein menschliches Antlitz gesehen haben,Jiihlen sich von einem Muster, das einem Gesicht ähnelt, stärker angezogen als von einem, das in seinem Inneren leer ist oder sehr unre-gelmäßige Konturen hat. Es scheint, als würde man mit dem Wissen eines Gesichtes auf die Welt kommen."

zitiert nach Daniel McNeill: Das Gesicht, eine Kulturgeschichte, 1998

kulturhistorische Grundlagen
a) Beispiele mit religiösem Hintergrund

Das Bild als Ikone der Genesung im komplexen Heilungsprozess Hier kann auch die Geschichte vom Lazarus stehen (Johannes 11,3-45) oder viele andere Geschichten, die von Menschen berichten, die an der Schwelle des Todes gestanden sind und von den Außenstehenden schon für tot gehalten wurden, weil nichts, aber auch gar nichts mehr den Kriterien des Lebens zu entsprechen schien. Es ist die äußerst eingeschränkte, manchmal auch völlig fehlende Kommunikation mit dem Patienten, die zu einer solchen Einschätzung führen kann. Um so erstaunlicher muten uns Berichte an, die von einer gelungenen „Rückholaktion' berichten.

Es ist nicht unerheblich, ob Kunst, die in einen therapeutischen Kontext gestellt werden soll, reine ästhetische Funktionen zu erfüllen hat und somit dekorativen Charakter annimmt, oder ein (kleiner) Teil eines Heilungsprozesses werden kann, weil sie sich bemüht, basale, archetypische und energetische Bildwelten des Patienten anzusprechen.

Bild: Giotto di Bondone, die Heilung des Lazarus, Scrovegni-Kaspelle, Padua, 1306


b) Beispiele aus der volkstümlichen Erzähltradition (Märchen)

Märchen sprechen von jenen Dingen, die sich in einem vorrationalen Weltbild nicht erklären lassen, kongenial in Form von symbolischen Zeichen (z. B.: der gläserne Sarg in Schneewittchen als Beschreibung eines apalli-schen Zustands). Die lebensrettenden Maßnahmen werden aus den stetig gewachsenen Einsichten in die Zusammenhänge der Lebensprozesse gespeist, aber immer bildhaft vermittelt.

• die Ursachen der Krankheit
• die Dauer der Krankheit und der Zeitpunkt der Genesung
• Heilung in Form menschlicher Zuwendung und der unerschütterliche Glaube an die Sinnhaftigkeit der Bemühungen

Dornröschen: "Ich furchte mich nicht, ich will hinaus und das schöne Dornröschen sehen!"Da lag es und war so schön, dass er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf erwachte und blickte ihn ganz freundlich an ...

Bild: Ludwig Richter: Schneewittchen, Illustration aus Volksmärchen der Deutschen, 1842

:-)

Über das Projekt

2006 fand ein geladener Wettbewerb zur künstlerischen Ausgestaltung der erweiterten Abteilung für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation der Universitätsklinik Christian Doppler Klinik/Salzburg statt. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mit den Erfahrungen von Wachkomapatienten, insbesonders fußt die Arbeit auf einem regen Austausch mit einem Kollegen aus meinem Bekanntenkreis, der ein halbes Jahr in dieser Klinik behandelt worden war. Viele Ideen stammen aus intensiver Beobachtung von Kunstwerken und Reflexion literarischer Beschreibungen.

Das Projekt wurde nicht umgesetzt.

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Projektbeschreibung Pdf

"Hallo, ich spreche jetzt zu dir." Ein Avatar aus der Serie "physiognomische Basaltherapie." Pastellkreidezeichnungen;
Bilder zum Vergrößern anklicken. Animation noch in Arbeit.