ANTON THIEL

ÜBER GOTT UND DIE WELT - Texte zu unterschiedlichen Themen

Wenn es eine Übereinstimmung von Form und Inhalt geben soll – wie an anderem Ort gefordert – stehe ich vor dem Dilemma, auf simpler Html-Basis (so sind die meisten Seiten aufgebaut) den einfachsten Grundprinzipien typografischer Gepflogenheit nicht entsprechen zu können. Ich weiß trotz voreingestellter Parameter nie, wie meine Schrift auf dem Computerbildschirm meines anonym (!) bleibenden Besuchers erscheint. Dieses Phänomen führt meinen Aufsatz über die "Arialisierung der Welt" ad absurdum, erscheint dieser möglicherweise gerade in dieser Schrift. Allerdings stützt dieser Umstand meine These, dass es diesbezüglich kein Entrinnen gibt und das Überleben in einer Kultur schon immer damit verknüpft war, auch das gößte Übel stoisch zu ertragen. Allerdings habe ich jeden Artikel im Pdf-Format bereitgestellt, um diesem Missstand ein wenig entgegenzuwirken.

Zum Problem der Typografie im Internet:

Anton Thiel Chromophobie


Anton Thiel: Über das Vergnügen, Farben zu sehen



Ich sitze am Rande des Residenzplatzes in Salzburg in einem schattigen Café und habe allen Grund, das Leben zu genießen. Hätte, denn ich traue meinen Augen kaum, ich versuche meine Brille zu putzen, reibe an den Lidern, denn möglicherweise trübt der Staub der Stadtlauft meine Hornhaut, ich blinzle heftig – aber es nützt alles nichts: Das Konglomerat des Doms wurde gewaschen, ein neutrales Graubraun fließt jetzt vertrauensselig mit dem hellen Splittsand des Residenzplatzes zusammen und wölbt sich in dessen Mitte zu einem barocken Brunnen empor, dessen weißer Adneter Marmor nach der Restaurierung ebenfalls eine gelblich-sandige Farbigkeit angenommen hat. Ähnlich abgesumpft präsentiert sich die früher strahlende Westfassade des Doms. Die anschließende Alte Residenz führt den "harmonischen Farbklang" mit einem hellen Beigegrau weiter, die dahinter liegende Kollegienkirche ist in leichtes Grauweiß gehüllt, von zart blaugrauen Faschen unterbrochen. Und erst die Fassaden der angrenzenden Bürgerhäuser! In lieblich abgeschwächten Pastelltönen kokettieren sie mit ihrer ins Bedeutungslose zurückgenommenen Erscheinung. Die abschließende Michaelerkirche wird gerade renoviert, wobei das ursprüngliche Terrakotta jetzt mit einem weißlich gebrochenen Senfocker übertüncht wird. Eine Orgie der Mittelmäßigkeit und Fadesse. Alles und jedes wird hier mit einer dicken Einbrennsauce übergossen (eigentlich klar definiert laut RAL-System 1000/1001/1002/1013/1014/1015 etc.), optisch verschmolzen, Gegensätze werden geglättet, Brüche banalisiert. Mein Tischnachbar trägt camelbraune Hosen (#cc9966), ein Chamois-Blouson (#FaFad2) und ein Poloshirt in Burlywood (#deb887). Er bestellt sich einen Verlängerten. Die Kekse, die dazu serviert werden, sind trocken und kleben penetrant am Gaumen.

Szenenwechsel: Wanderung durch Österreich. Wunderbare landschaftliche Restzustände, wenn nicht gerade Agrarindustrie und Bundesforste gewaltsam der Gegend ihren Stempel aufdrücken. Und dann die Kleinhäusler mit ihren selbstverliebten Hütten an allen Ecken und Enden. Dazu die Lagerhausfarbenpalette von Hepatitisgelb bis Depressivviolett. Honigholzbalkone auf azurblauen Dämmfassaden. Und dazwischen einige Architektenschachteln in ungebrochenem Magenta, kombiniert mit anthrazitfarbenen Garageneinfahrten. Dagegen sind die abgefuckten Häuschen der Nachkriegsgeneration eine wahre Augenweide: schmutziges Weiß auf Kellenputz mit schwarzer Holzverkleidung im ersten Stock und vergilbten rostroten Eternitplatten auf der Wetterseite.

Es empfiehlt sich allemal, eine dunkle Sonnenbrille mit sich zu führen.

Dann sitze ich in meinem Lehnstuhl und träume von den bezaubernden Farben der Böhmischen Erden, vom satten Pompejanischrot, vom verspielten Veronesergrün, den zahlreichen Umbrischen Schattierungen, den natürlichen und gebrannten Varianten der Ockersorten aus Siena, den tiefen Tönen des Caput Mortuum, dem edlen Kalkweiß und dem würdevollen Rebschwarz. Wie schön könnte unsere Umgebung sein! Derweilen sitzt in einem Bild von Hieronymus Bosch Gott auf einem Regenbogen und hält Gericht über seine farbenblinde Menschheit.

Literarische Nachbetrachtung: Marcel Proust lässt in seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" die Romanfigur Bergotte auf ein "gelbes Mauerstück" in Vermeers "Ansicht von Delft" (1660, Mauritshuis, Den Haag) aufmerksam werden. Dessen letzte Gedanken über dieses farbige Mauerstück reflektieren Prousts Ansichten über Kunst im Allgemeinen. "So hätte ich schreiben sollen … ich hätte mehr Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen, wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist." Jean Paul Sartre stellt sich in Anbetracht der gemalten und dann beschriebenen Farbigkeit der Ziegel die Frage "Warum ist das so schön?" und entwickelt daraus seine Theorie der Literatur als Erneuerung der Welt durch Freiheit (J. P. Sartre: Qu’est-ce que la littérature?; beschrieben in Simone de Beauvoire: Der Lauf der Dinge, 1963).

Erschienen in: BÖKWE, Fachblatt des Berufsverbandes Österreichischer Kunst- und WerkerzieherInnen, Nr. 3, 2013 (Glosse unter dem Titel: STRANDGUT. Vom Herumstreunen der Gedanken)

Chromophobie: Die Chromophobie, vom griechischen phobos / Furcht, bezeichnet eine Farbenscheu, ist allerdings weniger ein medizinisch diagnostizierbares Unbehagen als eine kulturelle Kodierung des Farbigen als Angst einflößend, bedrohlich und fremd. Chromophobie ist somit die irrationale, unter Umständen extreme Angst vor Farben. (http://kunsthallewien.at/#/blog/2014/10/chromophobie, VANESSA JOAN MÜLLER, 29/10 2014)

David Batchelor: Chromophobie: Angst vor der Farbe; Taschenbuch, 2002

RAL-Farbtabelle

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