ANTON THIEL



ÜBER GOTT UND DIE WELT - Texte zu unterschiedlichen Themen

Wenn es eine Übereinstimmung von Form und Inhalt geben soll – wie an anderem Ort gefordert – stehe ich vor dem Dilemma, auf simpler Html-Basis (so sind die meisten Seiten aufgebaut) den einfachsten Grundprinzipien typografischer Gepflogenheit nicht entsprechen zu können. Ich weiß trotz voreingestellter Parameter nie, wie meine Schrift auf dem Computerbildschirm meines anonym (!) bleibenden Besuchers erscheint. Dieses Phänomen führt meinen Aufstz über die "Arialisierung der Welt" ad absurdum, erscheint dieser möglicherweise gerade in dieser Schrift. Allerdings stützt dieser Umstand meine These, dass es diesbezüglich kein Entrinnen gibt und das Überleben in einer Kultur schon immer damit verknüpft war, auch das gößte Übel stoisch zu ertragen. Allerdings habe ich jeden Artikel im Pdf-Format bereitgestellt, um diesem Missstand ein wenig entgegenzuwirken.

Zum Problem der Typografie im Internet:

Anton Thiel Die Paralyse der Wahrnehmung

Die paralysierte Wahrnehmung

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so zornig bin, die Bilder aus neuen Zeiten, die kommen mir nicht aus dem Sinn.“

Heinrich Heines ursprünglich äußerst melancholische Lyrik „Loreley“ (wäre heute ein Grund, Antidepressiva zu verabreichen) wird beim Lesen hartnäckig von einem gegenläufigen Effekt überlagert: Aggressivität, ausgelöst von medialen Bildern, die mich unablässig wie ausgehungerte Moskitos umschwirren. Fotos von geschundenen Körpern, herausgerissenen Häuserfronten, verzweifelt herumirrenden Verletzten; unscharfe Standbilder aus Überwachungskameras, glotzende Kommentatoren mit ihren dicken Aufnahmemikrophonen samt den patzigen Logos diverser Nachrichtenagenturen, die „vor Ort“ ihre nichtssagenden Neuigkeiten repetieren, zuweilen der zur Schau gestellte bekümmerte Blick eingekaufter Experten, die in ihren Analysen gewichtige Placebo-Argumente verbreiten – wir alle kennen diese „Ästhetik des Terrors“ im Hauptabendfernsehprogramm, auf den ersten Seiten der Tageszeitungen, fett und unheilkündend in Szene gesetzt, und in den einschlägigen Newsportalen des Internets. Eine "Topografie des Terrors" verspricht das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit und rühmt sich, der meistbesuchte Erinnerungsort in Berlin zu sein, die "Typografie des Terrors" wird im Münchner Stadtmuseum mit Plakaten, Flugblättern und Propagandaschriften in Szene gesetzt, die "Ornamente des Terrors" "lassen den Betrachter taumeln zwischen Schönheit und Grauen", wie die FAZ über eine Ausstellung der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar zu berichten weiß (19. 3. 2013), ins "Auge des Terrors" schaut, wer sich eine einschlägige Software für seinen PC kauft ("Übernehmen Sie die Führung der US-Armee und bekämpfen Sie die Terror-Herrschaft!" – Herstellertext) und die "Poetik des Terrors" wird in einer Fortbildungsveranstaltung für Lehrer an der Goethe-Universität in Frankfurt angeboten ("Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen." Poetik der Bedrohung und Gewalt im Deutschunterricht) bis hin zu den "Ikonen des Terrors" ("Unheimlich vertraut – Bilder vom Terror" C/O Berlin – International Forum For Visual Dialogues): ein apokalyptisches Bewusstsein von Welt, geprägt von einer Wahrnehmung (Ästhetik) durch Angst und Schrecken.

Reagieren wir auf ein solches Angebot mit gesteigertem Lustempfinden, mit einer Geilheit nach Bedrohung? Brauchen wir in unserer dumpfen Existenz den belebenden Kick des Bösen? Sozusagen den antagonistischen Gegenentwurf zu unserer gelebten Biederkeit? Welches Schaudern holt uns aus den verschlafenen Denkmustern, was kompensiert die als lächerlich empfundene Existenz? Was heilt unsere satte Verzweiflung?

Ich glaube natürlich auch an den kathartischen Einfluss mancher Schreckensbilder. Aber grauenhafter und durch seine zynische Wirkung ins Bodenlose gezogen ist jenes Ergebnis, das man bei der Eingabe des Suchbegriffs "Ästhetik des Terrors" von Google (23. 4. 2013) präsentiert bekommt: "Terrorismus | Poetik des Terrors; Die Kunst des Todes, 9/11 und die Sprache der ... - Terrorschutzamt : Ästhetik der Selbstzerstörung: Selbstmordattentäter in der ... - Seite 63 - Google Books; … Anzeige zu Ästhetik des Terrors: www.aesthetische-chirurgie.at/Ästhetische Plastische Chirurgie: 20 erfolgreiche Jahre!"

Auch wenn diese Konstellation auf einen unfähigen Suchalgorithmus zurückzuführen ist, demaskiert das Auftauchen eines Angebots für Schönheitsoperationen unter dem Schlagwort "Ästhetik des Terrors" alle humanen Kategorien unseres kulturellen Verhaltens. Sozusagen das chirurgische Messer als kreative Antwort auf die Bedrohungen der Welt.

Nachtrag

„… die Welt des Kots, der Eingeweide, der stinkenden Säuren, der von Blut durchpumpten Schläuche, der zuckenden Nervenfasern, von ihr war ich erfüllt, dort lag ich im Schleim, im Schlamm …“ Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands, Essay-Roman (1981)

Ein Plädoyer für die Kunst als Lebensnotwendigkeit: „Es geht um den Widerstand gegen Unterdrückungsmechanismen, wie sie in ihrer brutalsten, faschistischen Form zum Ausdruck kommen, und um den Versuch zur Überwindung einer klassenbedingten Aussperrung von den ästhetischen Gütern.“ (Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980, Frankfurt/Main, 1981, S. 419)


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