Anton Thiel



die MUSEN • BE • 50 Jahre
Startseite Startseite Anton Thiel
30.55.6. 2016 FESTWOCHE
Mühlbacher-Gründungsgeschichte
W. Mühlbacher: Die Gründungsgeschichte, Pdf
Startseite Startseite der Schule
BE-Ausstellungen BE-Ausstellungen Vernissage Vernissagen Veranstaltungen Veranstaltungen
Vernissage Ausstellungsfolder 2016
Grundsätzliches zum Musischen Gymnasium Bilder Bilder
Vernissage Adolf Degenhardt: Geleitwort (1986) Torus-Kollegienkirche Torus–Kollegienkirche 24.–31. Mai

Anton Thiel: Kafkas 'Kaiserliche Botschaft' als programmatische Parabel für das
Musische Gymnasium

Der Kaiser – so heißt es – hat dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten, gerade dir hat der Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr geflüstert; so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ. Durch Kopfnicken hat er die Richtigkeit des Gesagten bestätigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines Todes – alle hindernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs – vor allen diesen hat er den Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann; einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen -, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. – Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.
(Kafka: Eine kaiserliche Botschaft, aus gutenberg/spiegel.de)

Im schulischen Kontext gibt es für mich nur eine sinnvolle und überzeugende Deutung: Die Emanzipation des Akteurs, des Träumers von einem in unergründliche Ferne gerückten Über-Ichs, dessen Existenz längst erloschen ist. Wer von seinen schulischen Vorgesetzten eine/seine Botschaft erwartet, sollte sein Lehrerdasein an den Nagel hängen. Was immer auch in dieser wichtigen Botschaft enthalten sein könnte, sie wird nicht zugestellt (von wegen "Die Post bringt allen etwas"), sie erschließt sich nicht, weder in verauseilendem Gehorsam, noch in geduldigem Warten. Träumt! Lasst eurer Phantasie freien Lauf! Seid kreativ, also selbstbestimmt und selbstgestaltend! Wir Lehrer sind keine Vollzugsorgange vermeintlicher Experten und deren vorgekauter Weisheiten – lediglich unsere Sehnsucht nach dieser Welt und diesem Leben und die Verantwortung gegenüber den uns anvertrauten Kindern lässt uns eine/unsere Botschaft verwirklichen. Unsere Träume sind keine müden Chimären, sie sind keine Trugbilder oder Weltverweigerungsstrategien! Sie sind unsere kreative Aneignung dieser Welt! (Anton Thiel, Juni 2016)

Anton Thiel, Mag. phil, unterrichtet seit 1981 am Musischen Gymnasium die Fächer Deutsch und Bildnerische Erziehung

Anton Thiel: Vom Paddelboot zum Ozeandampfer. Die Entwicklung eines schulischen Erfolgsmodells

Motto

Weinkamer  galt als einer der wesentlichen Vordenker und Protagonisten der musischen Schulform. Er war mit einer Delegation im September 1965 in Wien, um im Ministerium den geplanten Schulversuch „Musisches Gymnasium“ vorzustellenn. Ministerialrat Benedikt war der direkte Ansprechpartner.
Weinkamer: Herr Ministerialrat, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, aber diese Schulform der musischen Bildung wird ein Unikat in Österreich sein …
Benedikt (sichtlich genervt, unterbricht): Na Gott sei Dank, und das soll auch so bleiben!
(Gedankenprotokoll eines anwesenden Kollegen)

Die Gründerphase. Wer den längeren Atem und vielleicht auch das Glück auf seiner Seite hat, wird erfolgreich. Wer geschickt mit den verständlichen Symbolen einer Kultur umzugehen weiß, kann auch mehr erreichen.

Was ist aber, wenn wir alle keine Lebenserfahrungen mehr haben, all das, was wir lernen, fremdbestimmt vermittelt, also nur mehr Wissen aus zweiter, dritter Hand ist, normiertes und taxiertes Wissen, das sich als kultureller und gesellschaftlicher Konsens im Laufe der Zeit herausbildet und dem man sich zu unterwerfen hat? Auch der Methode, wie dieses Wissen vermittelt bzw. weitergegeben wird, mal strikt autoritär, dann wieder subtil einschmeichelnd, als wäre der Zustand ein gewollter und selbstbestimmter?

„Wissen ist Macht“ (die verkürzte, immer wieder zitierte und sich selbst zu rechtfertigende Formel „Ipsa scientia potestas est“ des englischen Philosophen Francis Bacon, der in seiner 1597 veröffentlichen Schrift „Meditationes sacrae“ noch darüber sinnierte, warum es sinnvoll sei, den größeren Zusammenhang zwischen der göttlichen Schöpfung und der menschlichen Erkenntnis zu verstehen) gilt heutzutage weniger als Rechtfertigung eines unliebsamen Wissenserwerbs mit dem Versprechen des sozialen Aufstiegs („Sobald du die verborgenen Mechanismen der Macht begriffen hast, kannst du sie auch nutzen) bzw. der Machtumkehr („Das Instrumentarium der Wissensmonopole muss zerschlagen werden zugunsten einer egalitären Wissensgesellschaft, in der bedingungslose Chancengleichheit herrscht), denn als als Erkenntnismaxime selbst: Macht ist Wissen, Wissen ist Macht – also eine weitgehend sich selbst rechtfertigende, weil selbsterklärende Formel. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass Wissen und Macht nicht unbedingt zwei sich bedingende gesellschaftliche Kräfte sind. Um Macht ausüben zu können, bedarf es nicht etwa des umfassenden Wissens, da genügen meist ideologisch verkürzte Handlungsanleitungen. Die Mächtigen bedienen sich allerdings gerne der Wissenden (oder jener, die sich als solche ausgeben), deren Eitelkeiten großzügig bedient werden. Bei Unbotmäßigkeit drohen sie jedoch ausgetauscht oder in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt zu werden. Nach diesen Grundregeln agieren Institute der Wissensvermittlung, also auch Schulen, insbesondere Gymnasien. Der Bildungsauftrag seitens des Gesetzgebers in Österreich lautet folgendermaßen: Das Ziel der AHS ist die Vermittlung einer umfassenden und vertieften Allgemeinbildung und damit die Schaffung der nötigen Voraussetzungen für ein Universitätsstudium (https://www.bmbf.gv.at/schulen/bw/abs/ahs.html, 19. 02. 2015). Da nun die zeitgemäße Pädagogik und Didaktik den Akzent weniger auf dem Anhäufen von Wissen, sondern in der Wissenskompetenz sieht (Dreischritt: Reproduktion, Transfer, Reflexion zusammen mit operationalisierten Lernzielen), wird das Wissen selbst, das fast ausschließlich als diskursiv-begriffliches Denken definiert ist, in einen sekundären Bereich (Lexika, Fachbücher, Internet) ausgelagert, d. h. es kann nachgeschlagen, gesammelt und abgeschrieben werden. Ich bin Wikipedia! Das, was bisher galt, gilt jetzt im Wesentlichen auf geringerem Niveau –  dies dafür vergleichbar und messbar.

Was tun wir aber mit Kindern, die in Bildern denken, melodische Schlüsse ziehen oder mit der Bewegung ihres Körpers alle diskursiven Klugscheißer eines Besseren belehren? Haben wir in unserem Schulsystem Räume der Akzeptanz für diese gesellschaftlichen Querdenker, institutionellen Verweigerer und poetischen Freigeister?

Als sich engagierte, unerschrockene und vom pädagogischen Eros getriebene Lehrer Anfang der 60er-Jahre anschickten, Schule neu zu denken, waren sie vorerst von ihrer Einsicht geleitet, die Wissensvermittlung und die damit verbundene Bildungsdiskussion der damaligen Zeit bewege sich in Richtung einer rein kognitiven, geistig partikulierenden, von Rationalismus und purem Zweckdenken gelenkte Institution . Dabei waren sie weder Verächter der Naturwissenschaften noch Bilderstürmer oder Kulturpessimisten. Sie haben einfach den Mangel an umfassender und in die Tiefe gehender Bildung gespürt und dem Zeitgeist, der von Wiederaufbau und Zweckoptimismus geprägt war und unsere fatale Konsumorientiertheit bereits erahnen ließ, etwas anderes, Menschlicheres, Umfassenderes entgegensetzen wollen. Dabei waren die Beweggründe sehr unterschiedlich.

Da waren zum einen die Universalisten. Erich Weinkamer, Mathematiker und späterer Direktor des Musischen Gymnasiums, wurde nicht müde, die Bedeutung der Beziehung von Geistes- und Naturwissenschaften hervorzuheben, auf die wesentliche Rolle der Musik und bildenden Kunst innerhalb unserer Kultur hinzuweisen und die Durchdringung aller Bemühungen und Äußerungen des Menschen mit seinen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zu betonen. Dann waren da die Elitären, die sich eine Erneuerung des Schulsystems im Sinne eines gewissen geistigen Auserwähltseins erträumten. Da waren die Klassizisten, die eine Wiedererweckung alter Bildungszustände über die lateinisch-griechische Sprache in Ergänzung mit den germanischen Mythen und Traditionen erhofften, weil sie die Gegenwart für das hielten, was Oswald Spengler bereits 1918 konstatiert hatte: den „Untergang des Abendlandes“. Da gab es jedoch auch jene, die an die abgebrochene Tradition der Reformpädagogik der Zwischenkriegszeit bewusst anknüpfen wollten und voller Enthusiasmus für eine neue Schule für neue Menschen kämpften. Adolf Degenhardt, der Kunsterzieher, versuchte unermüdlich die Idee der Anschaulichkeit zu vermitteln und kämpfte verzweifelt gegen die Ignoranz einer Salzburger Bildungselite, der jede dynamische Weiterentwicklung suspekt war und die gar nicht verstehen wollte, dass es neben Mozart auch noch etwas anderes geben könnte. Da war der unermüdlich wirkende, äußerst begabte Musiker Albin Reiter, der natürlich die Chance sah, der Unterbewertung des Fachs Musik mit der Förderung (musikalisch) begabter Schüler einen klingenden Akzent entgegenzusetzen. Seine Chorstunden gelten auch heute noch als legendär! Und natürlich gab es den damaligen Direktor Erich Kaforka, der all diese Bemühungen tatkräftig unterstützte und beharrlich die Idee eines Musischen Gymnasiums in eine äußerst konservative Bildungsschicht Salzburgs und Österreichs hineintrug.

Kollege Wolfgang Mühlbacher hat in seinem Bericht zur Gründungsgeschichte des Musischen Gymnasiums zur Recht an der Bedeutung der Prolegomena (1959) von Bernhard Paumgartner gezweifelt und darauf hingewiesen, wie offen ein Teil der Lehrer den neuen Ideen für eine alternative Pädagogik, basierend auf einer Höherbewertung aller Künste, gewesen sein musste. Taktisch wird in der Öffentlichkeit vermutlich ein anderes Bild erzeugt worden sein, als es in der Schule dann tatsächlich praktiziert wurde. Fast niemand konnte sich unter dem Begriff „musisch“ etwas Konkretes vorstellen, nicht die Schulbehörde, die ja nicht mit außergesetzmäßigen Aktivitäten in der Schullandschaft behelligt werden wollte, nicht die Politiker bis hin zum Landeshauptmann Hans Lechner (1961–1977), die ja alle eingebunden sein wollten und diese Neuerung in Wien vertreten mussten.* Wie immer agierte man mit leicht verständlichen und gut nachvollziehbaren Symbolen und hielt das Aushängeschild der Musikkultur hoch: Bernhard Paumgartner, 1946–1959 Rektor des Mozarteums, 1960–1971 Festspielpräsident, Gründer und Leiter der Camerata Academica und bedeutsamer Netzwerker in der Salzburger und internationalen Kulturszene. Ach ja, hat man sich letztendlich gedacht, mehr Musik in die Schule, also eine Art Gymnasium mit Musikschwerpunkt, vorgelagert dem Mozarteum, sehr begrüßenswert. Da nehmen wir noch ein wenig die marginalisierten Schönen Künste mit, schadet nicht. Ein Teil des permanenten Missverständnisses bei vielen Außenstehenden mag auf diese ursprüngliche Schieflage zurückzuführen sein: Musisch = Musik. So ist bis heute die Diskussion um das Musische Gymnasium zufolge dieser Ausgangsposition vorbelastet.

* In diesen Zusammenhang passt auch die Anmerkung aus dem Buch „Gesichter, Köpfe und Gestalten“ von Herbert Moritz (Unterrichtsminister 1984–1987), die treffend die gefährdete Existenz des Musischen Gymnasium in all den Jahren seines Bestehens aufzeigt:

„Wie üblich hatte Bundespräsident Jonas nach der Eröffnung der Festspiele (1970) zu einem offiziellen Mittagessen in den ‚Österreichischen Hof‘ am Ufer der Salzach eingeladen, und weil es das Protokoll des Landeshauptmanns beim besten Willen nicht vermeiden konnte, hatte ich als Kulturreferent des Landes an der Festtafel einen Platz neben dem Festredner Zuckmayer erhalten. Ich sprach Zuckmayer auf die in seiner Festrede beschworene ‚Musische Bestimmung des Menschen‘ an – führte ich doch in dieser Zeit einen schier verzweifelten Kampf um das Salzburger Musische Gymnasium, das als Sonderform einer Allgemein bildenden Höheren Schule absolut nicht in das neue Reformschema des Ministeriums passen wollte und deshalb von Auflösung bedroht war. Zuckmayer ging mit großer Lebhaftigkeit auf meine Intentionen ein, dem Musischen bei der Bildung junger Menschen zumindest den gleichen Rang wie den formalen Fächern einzuräumen. Vielleicht hat die Berufung auf Zuckmayer zwei Jahre später dazu beigetragen, den damaligen Unterrichtsminister, meinen Freund Fred Sinowatz, von der Bedeutung des in Salzburg kreierten Schultyps zu überzeugen und seinen Bestand bis heute zu sichern.“ (Seite 62, Hervorhebung durch die Redaktion)

Die Phase des Experimentierens und der Weichenstellungen (Erich Kaforka 1965–1973, Franz Schirlbauer 1973–74, Gustav Seiss 1974–80)

Am 8. September 1965 findet die entscheidende Sitzung im BMfU mit den jeweiligen Entscheidungsträgern statt. Der Schulversuch wird im Sinne der Antragssteller bewilligt und die ersten drei Klassen werden koedukativ geführt. Dazu ist im Jahresbericht der Schule 1965/66 lapidar festgehalten: „Die Klassen 1a, 2a, 3a werden als musische Klassen geführt. Die Klassenvorstände sind: Bilek, Laschensky, Strauß. Konferenzen der beteiligten Professoren zur Beratung des Lehrplanes und zur Konzentration im Unterricht durchziehen das ganze Schuljahr.“

Da ich in den Jahren 1965 bis 1973 selbst Schüler des Musischen Gymnasiums war, sei es mir gestattet, hier aus ganz persönlicher Sicht diese Zeit zu schildern. Subjektive Wahrnehmungen sind zwar problematisch, da die Erinnerung an die in der Schule verbrachte Zeit sehr stark von den Konstellationen abhängt, mit denen man als Schüler konfrontiert war – sympathische Lehrer, schlechte Lernerfolge, Konflikte mit Mitschülern, erste Liebesbeziehungen und die daraus resultierenden hormonell bedingten Bewusstseinstrübungen und vieles mehr, das unseren Blick auf diese für die Entwicklung so bedeutsame Zeit beeinflusst.

Da ist einmal die damals so gar nicht selbstverständliche Situation der Koedukation. Es gab Lehrer, die ganz bewusst auf diese neue Situation einzugehen wussten und bereits ihre Lehrinhalte und Methoden darauf abstimmen konnten. Anderen war dies völlig egal und sie unterrichteten, als stünden sie immer noch vor einer reinen Burschenklasse. Nach anfänglichen Schwierigkeiten im Umgang mit den Mädchen konnte ich durchaus eine andere Haltung entwickeln, die sich vom damals üblichen Machogehabe meiner Freunde in den nicht koedukativ geführten Klassen unterschied. Dies hat mir umgehend den Titel „Weiberheld“ eingebracht, was mich nicht weiter störte, da ich die neue Situation als bereichernd empfand. Ich glaube, dass hier das Musische Gymnasium eine wichtige Pionierarbeit geleistet hat. Koedukation ist in unserer Zeit im Zusammenhang mit Chancengleichheit, Gendergerechtigkeit und kultureller Akzeptanz wieder in Diskussion gekommen. Ich möchte die Erfahrungen, die ich damals durch die Einführung der Koedukation gemacht habe, nicht missen. (Flächendeckend wurde die Koedukation an österreichischen Schulen erst 1975 unter Unterrichtsminister Fred Sinowatz eingeführt.)

Wie immer prägten einige Lehrerpersönlichkeiten meine Entwicklung. Viele erinnern sich nur ungern an ihre Schulzeit, empfinden sie im Rückblich als traumatisch oder einfach als langweilig, stoßen sich an als sadistisch empfundenen Lehrern, an Lehrern, die Minuten zu einer Ewigkeit ausdehnen konnten, und an solchen, die einfach Nullnummern waren. Merkwürdigerweise hat sich diesbezüglich meine Erinnerung eher ins Positive gewendet, ohne die Schwächen der Personen, die uns aufgrund eines zufälligen Verteilungsschlüssels zugeteilt waren, vergessen zu haben. Vielleicht lag einfach in der neuartigen Situation für jeden von ihnen ein permanenter Auftrag, dem sie gerecht werden konnten oder an dem sie scheitern mussten. Aber in dem Augenblick, als man als Schüler eine solche Unsicherheit in der Autoritätsperson zu erahnen glaubte, wurde diese menschlich und fassbar und ermöglichte einen differenzierteren Blick.

Da war nun einmal mein Klassenvorstand Herbert Bilek, ein merkwürdiger Kauz und in seiner Erscheinung für viele befremdlich: Er trat stets in einem schwarzen Talar auf, verhielt sich in Ton und Sprache, in Blick und Haltung wie ein Schauspieler, der würdevoll und gnädig mit seinen ihm anvertrauten Schützlingen umzugehen wusste, streng in der Sache, ausufernd in der Begeisterung für Homer (im Deutschunterricht der Unterstufe las er die „Illias“ und die „Odyssee“ in der Voß’schen Übersetzung vor – deutsche Hexameter, 12.000 Verse allein die „Odyssee“, und blickte in den dramatischen Szenen mit seinem stechenden Blick über 32 gebannt lauschende Dreizehnjährige, um dann nach dieser spannend inszenierten Atempause die nächsten hundert Verse folgen zu lassen. Unsere geistige Rotzglocke war antik kontaminiert. Zu Hause wurde der von Hephaistos kunstvoll geschmiedete, in allen Einzelheiten geschilderte Schild des Achill gezeichnet. Monumental. Phantasmagorisch. Unvergesslich.

Indes zog ein monomanischer Geschichtslehrer auf seine Weise prägende Furchen durch die fiebernden Vorstellungswelten seiner Schüler. Nachdem der Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien am 5. Juni 1967 ausgebrochen war, stürzte der Historiker Kurt Mayrhofer in die Klasse und begann bereits an der Klassentür den Hergang des Kriegsgeschehens zu schildern. Mit kühnen Bildern und Vergleichen versuchte er eine Verbindung der Klasse zu den dramatischen Geschehnissen im Nahen Osten herzustellen. Gleichzeitig schrieb er unablässig Namen, Begriffe, Jahreszahlen an die Tafel, stellte Sinnzusammenhänge mit biblischen Berichten, römischen Besatzungsberichten, mittelalterlichen Kreuzzügen, dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und seinen fatalen Folgen für die Region her, zeichnete Landkarten aus dem Gedächtnis, wischte ab, verwarf, diskutierte mit sich selbst und war ganz Ereignis selbst. Die Tafel sah beim Läuten aus wie eines der Schlachtfelder auf der Sinaihalbinsel, wir saßen völlig überfordert, teils ratlos, teils hingerissen von dem elementaren Ereignis, das sich während der Unterrichtsstunde über uns ergossen hatte, hinter unseren Schulbänken und versuchten in unsere banale Welt des Schulalltags zurückzufinden. Wie es so sein musste, zogen kleinkarierte Eltern, die sich um das kindliche Gemüt ihrer Sprösslinge sorgten, zur Direktion, belagerten die Behörden und erzwangen die Versetzung des Lehrers.

Ich selbst habe nie wieder eine derartige Unmittelbarkeit im Unterricht erlebt, nicht am Musischen Gymnasium, nicht an der Universität in Wien. Der Zauber der Anverwandlung, das Abenteuer, durch die schwindelerregenden Gefilde der Geschichte zu stürmen, als berauschendes Odium im Klassenraum, ist mir heute noch gegenwärtig und ich bewahre diese Szene wie einen kostbaren Schatz in meiner Erinnerung.

In der Oberstufe wehte ein neuer Geist durch die Klassenräume. Die Zeit der Schulreform der 70er-Jahre war angebrochen, man sprach von Demokratie und Mitbestimmung, ereiferte sich über die Ungerechtigkeit der Mächtigen und solidarisierte sich mit den Unterdrückten dieser Erde. Nach den medialen Gustostückeln aus den Avantguardestudios des Prager Frühlings und den revolutionären Experimentalfilmen aus Mittel- und Südamerika (Pater Strolz hatte dank seiner internationalen Beziehungen eine reichhaltige Mediathek aufgebaut), wurde diskutiert, gestritten und politisch Position bezogen. Da kam das von Direktor Kaforka ausgewählte Maturathema nur gelegen: „Die Fähigkeit des Menschen, gerecht zu sein, macht Demokratie möglich. Die Neigung des Menschen, ungerecht zu sein, macht Demokratie nötig.“ Diese Aussage des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr ließ uns gedanklich und argumentativ ausufernd formulieren oder knapp aphoristisch urteilen. Jeder, wie er wollte, jeder, wie er konnte, ohne Einschränkung formaler, textsortenbezogener Vorgaben, ohne spekulative Erwartung einer bestimmten ideologischen Position. Welch wunderbare Voraussetzung, dem Freiheitsdrang junger Menschen ein adäquates Forum zu geben, sie zu ermuntern, diesen neuen Geist durch ihr Wirken in die Welt hinauszutragen.

Salopp formuliert: Manch einem Lehrer (es gab 1965 nur eine einzige Frau im Kollegium!)  saß die Vergangenheit noch gehörig im Nacken und vielen kam das diffuse Programm des Musischen nur gelegen, um die bösen Geister vergangener Ideologien zu besänftigen. Andere wiederum predigten unbeirrt ihre romantisch gefärbte Vision der Verschmelzung von Natur und Kultur zu einer universalen Einheit, in der sich das Individuum entfalten könne. Was sie dadurch erreichten? Zumindest ein verknöchertes pädagogisches System schrittweise aufzuweichen und Frischluft in die doch recht muffigen Klassenzimmer der 60-er Jahre zu lassen!

Die Phase kühner innovativer Höhenflüge und der Mut zum Scheitern. (1980–1988, Erich Weinkamer)

Der Schulversuch war mittlerweile in eine offizielle Sonderform übergeführt worden und die Schule musste geteilt werden. Das BGII orientierte sich stärker an den Naturwissenschaften, das BGIII übernahm den musischen Zweig und die neusprachliche Klasse. Mit drei Parallelklassen war die neu zu organisierende Schule „Untermieter“ in der alten, in den Jahren 1966 bis 1968 umgebauten Kaserne. Die Schule platzte aus allen Nähten, musste im Keller in den ehemaligen Garderoben, in einem benachbarten, adaptierten Privathaus und in einer entlegenen Volksschule Räume anmieten. Das war unerträglich und eine Chance zugleich. Die Planung für ein neues Gebäude wurde in Angriff genommen, viele Wunschträume geäußert und wieder verworfen. Das neue Schulgebäude in der Haunspergstraße, das 1989 bezogen werden konnte, ist Resultat einer gemeinsamen Bemühung vieler Kollegen, denen eine adäquate Architektur für den besonderen Inhalt, den sie in ihrem Unterricht zu vermitteln versuchten, vorschwebte. Der Werkerzieher Kurt Rottmann war mit Kollegen immer wieder in Wien, um mit dem Architekten im heiklen Balanceakt zwischen Bauvorschriften und pädagogischen Wünschen das Gewerk zum Laufen zu bringen.

Allein die Hoffnung auf eine ferne Verwirklichung hätte eine durch äußerst unvorteilhafte Bedingungen entstandene Erstarrung und Verzweiflung nicht aufwiegen können, wäre da nicht der unbeugsame und unbeirrbare Geist des neuen Direktors Weinkamer allen vorangestanden, der ermunternd und tatkräftig alle pädagogischen Experimente an seinem Haus zu fördern suchte, die Schule für neuen Ideen öffnete und einen liebevollen, aber konsequenten Umgang mit den Schülern einforderte. Es ist die Zeit der beginnenden großen Reisetätigkeit, um nur eine der Auffälligkeiten zu erwähnen. Ob es sich nun um spektakuläre Reisen ins Ausland handelte, die zu Sprachaustauschen mit England, Frankreich, Italien oder Spanien führten, weshalb immer auch unzählige Klassen unterwegs waren oder fremde bei uns betreut werden mussten, ob es sich um Konzertreisen oder Kunstreisen (Kulturwochen in Rom, Paris, Berlin, London oder Athen) handelte oder schon vor 1989 in Prag und Budapest/Esztergom mit Schulen reger Kontakt und Austausch gepflegt wurde, oder um die heiß geliebten meeresbiologischen Wochen in Premantura des Kollegen Arthur Sikora – immer stand der universeller, kulturell-künstlerischer Aspekt im Vordergrund, der den Schülern das Fremde näherbringen und vertraut machen sollte. Und bei all den Klagen, die wegen entfallener Unterrichtszeit von besorgten Kollegen in die Diskussion um den gefährdeten Lernerfolg geworfen wurden, konnte keine die stets ruhig und nachdrücklich vorgebrachte Rechtfertigung Weinkamers übertönen: „Aber was unsere Kinder da alles an großartigem Kulturgut gesehen haben und die menschlichen Begegnungen, die dadurch ermöglicht wurden, das kann ihnen niemand mehr streitig machen. Haben Sie doch Mut zur Lücke in Ihrem Lehrstoff!“

Die Phase ausufernder Entfaltung und beständiger Repräsentation (1989–2009, Ernst Mitgutsch).

Wie sich eine Schule nach außen hin gibt, zeugt wesentlich vom Selbstverständnis einer Institution. Alle Schulen treten ins Rampenlicht der Öffentlichkeit und rittern um Aufmerksamkeit.

Die Schule hatte sich inzwischen breiter aufgestellt. Der neusprachliche Zweig war ein Auslaufmodell und der großen Popularität und der deswegen steigenden Anmeldungszahl zur Aufnahmsprüfung („Eignungstest“) zollte man mit der Einführung weiterer Parallelklassen Rechnung. Dazu kam, dass zusätzlich zu den ursprünglichen musischen Trägerfächern Musik und Bildnerische Erziehung die Bereiche Tanz und Kreatives Schreiben eingeführt wurden, um die unterschiedlich musischen Begabungen besser abdecken zu können. Zuletzt (2015) wurde der musische Kanon noch mit einem fünften Bereich, Darstellendes Spiel, ergänzt, ein Fach, das schon lange in der Unterstufe als musischer Schwerpunkt anwählbar war und in der Oberstufe als unverbindliche Übung geführt wurde. Zudem wurde das Musikgymnasium als eigene Schulform mit völlig anderer Zielorientierung (Förderung hochbegabter Musiker) dem Musischen Gymnasium zur Seite gestellt. Was die einen als besondere Chance sahen, z. B. Synergieeffekte zu nutzen, erschien den anderen als Irritation auf dem Weg der inneren und äußeren Positionierung dieser Schule. Die Digitalisierung stellte in den 90er-Jahren die Schullandschaft insgesamt vor eine neue Herausforderung. Schule sollte sich in der Öffentlichkeit präsentieren und eine unverwechselbare Corporate Identity verpasst bekommen. So ist das bunt anmutende Logo des Musischen Gymnasiums in dieser Zeit entstanden. Der Schriftzug „Musisches Gymnasium“ wurde in einer noblen Designerschrift dieser Zeit gesetzt und strahlt eine gewisse Noblesse aus. Der rahmende Farbkasten des Logos in den Grundfarben Gelb, Rot und Blau ist streng konstruiert und rhythmisch gegliedert, sozusagen nach musikalischen Grundsätzen komponiert und nach tänzerischen Prinzipien choreografiert. Die drei Grundfarben gehen in ihrer Symbolik weit über die Farbenlehre hinaus, sind nicht nur Grundbestandteile der subtraktiven Farbmisch- und Farbkontrasttheorie, sondern als Hinweis auf die wunderschön gefärbten Holzklötze des Reformpädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852) gedacht. Also eine bewusste Rückbindung auf die Einsicht, man könne doch Kinder nicht in Aufzucht- und Bewahranstalten wegsperren, sondern müsse ihnen einen Freiraum zu ihrer natürlichen Entfaltung, wo dem Spiel als wesentlicher Faktor der Bildung, Erziehung und Betreuung mehr Bedeutung einzuräumen sei, bereitstellen.

Der gymnasiale Ort als Spielplatz? Es gab genügend Einwände gegen eine solche Haltung des Unernstes zusammen mit dem befürchteten Niveauverlust innerhalb einer Bildungsinstitution. Wobei natürlich alle erwachsenen Apologeten der Ernsthaftigkeit des Lebens, die in ihrem als Mühsal empfundenen Beamtenlehrerdasein längst verdrängt hatten, dass es so etwas wie eine selbstvergessen machende Intensität des Spiels gibt. Schillers Text „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ aus dem Jahr 1793 („Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“) haben vergrämte Deutschlehrer und ideologische Linkspädagogen immer mit Abscheu gelesen und in den Giftschrank für undurchführbare Fantastereien weggesperrt. Oder einfach ignoriert.

Die unmittelbar darauf folgende erste Homepage (1998–2013) der Schule war ähnlich komponiert und folgte der Idee des organischen Wachstums. Von einer Einstiegsseite, die an einen Nachthimmel erinnern wollte, mit Sternen und fernen Galaxien, die zu verborgenen Informationen und Botschaften führten, mit Satelliten, die provokante Statements beinhalteten, und Links, die in tief verborgene Bereiche der Website umlenken konnten, wo absurde, befremdliche und irritierende Seiten den Besucher überraschten und das Wesen des musischen Denkens und Handelns verdeutlichten, wurden zusätzlich mit vorgeschalteten Monatsthemen aktuelle Fragen thematisiert und auf einem eigenen Diskussionsforum heiß diskutiert und mit einem suggestiven Bild zu einem heiklen Thema leidenschaftlich Stellung genommen. Dieses Gebilde war zuletzt ins Unermessliche angeschwollen, für viele zu unübersichtlich, zu verwirrend und in diesem Konstrukt nicht mehr erneuerbar. Eine neue Ästhetik und eine neue Technologie wurde eingeführt und die Verantwortung wanderte aus der intuitiven und konspirativen Alchemistenküche des MultiMedia-Bereichs in die Verantwortlichkeit der Direktion.

Im Video „typologie der gesten. ein versuch über das wesen des musischen gymnasiums“  (2002) habe ich versucht, diese Ideen des Spielerischen vor dem Hintergrund des Zusammenwirkens aller Fächer zusammenzufassen und verständlich zu machen, ganz einfache, sinnliche Erfahrungen des Alltags mit den großen Momenten musikalischer Performance zu kombinieren und Reflexionen der Direktoren Weinkamer und Mitgutsch zu interpolieren. Eine (subjektive) Momentaufnahme, nichts weiter, wie es sich rückblickend herausstellte, jedoch mit forderndem Auftrag an die Schulgemeinschaft des Musischen Gymnasiums. (Typologie der Gesten). Auf jeden Fall ist es Direktor Mitgutsch zu danken, dass er diesbezüglich die Zeichen der Zeit erkannt und die Öffnung der Schule nach außen tatkräftig gefördert hat.

Fazit: Ich habe als Schüler acht aufregende Jahre in dieser Schule verbracht, mit all den Höhen und Tiefen eines Schülerlebens. Die Schule hat mich nachhaltig geprägt, indem ich gespürt habe, dass hier Menschen am Werk waren, die etwas Besonderes wollten, die bereit waren, mit uns eine Richtung einzuschlagen, von der wir hofften, dass sie die richtige war. Wir haben alles kritisch hinterfragt und dabei geduldige und verständnisvolle Zuhörer gefunden. Nun habe ich selbst an dieser Schule 40 Jahre (mit bewusst gesetzten Unterbrechungen) unterrichtet, habe möglicherweise den einen oder anderen Schüler vor den Kopf gestoßen, weil die Materie, um die es immer wieder geht, nicht mit dem simplen Ursache-Wirkungs-Prinzip zu vermitteln und einer ständigen Veränderung der Betrachtungsweise unterworfen ist, und hoffe, auch einige in ihrem tiefsten Wesen erreicht zu haben und sie wie ich in meiner Schulzeit erfahren durften, dass das Ringen um Erkenntnis auch gehörig verzaubern kann. (Geschrieben für die Jubiläumsschrift des Musischen Gymnasiums, 2016, Anton Thiel)

Über den Wert der Farben in einem Klassenraum ist bisher mehr dilletiert denn Sinnvolles vorgeschlagen worden. Im Schuljahr 2012/13 habe ich zusammen mit den Schülern und Eltern ein Farbkonzept entwickelt und mit Tatkräftiger Hilfe aller umgesetzt. Nicht eine zufällige Buntheit, sondern eine wohlüberlegte Ausgewogenheit bestimmter Farbwerte führte zu einer unverwechselbaren Atmosphäre in dieser Klasse. Eine zusätzliche Begrünung erhöhte noch den positiven Effekt der Farbe. Möglich am Musischen Gymnasium Salzburg! (A. Thiel)
Mühlbacher-Gründungsgeschichte Wolfgang Mühlbacher: Die Gründungsgeschichte des Musischen Gymnasiums, Pdf
Vernissage Bernhard Paumgartner: Prolegomena, Pdf
Vernissage Adolf Degenhardt: Geleitwort zum Musischen Gymnasium, 1986


"Stay Hungry. Stay Foolish", Steve Jobs, 2005, Stanford University