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formale Beschreibung
Das Bild Sternennacht präsentiert sich auf den ersten Blick als traditionelle Landschaftsdarstellung. Die horizontale Schichtung zeigt im unteren Drittel den Blick auf eine Landschaft mit Dorf. Wellenartig steigen die Hügel im Hintergrund nach rechts an und leiten so auf den Himmel über, der den Großteil der Fläche einnimmt. Zwischen den leuchtenden Sternen und dem extrem leuchtenden Mond bilden sich Turbulenzen am Nachthimmel aus, die man nicht nur als Wolkenformationen interpretieren kann. Die Vertikalen werden im Wesentlichen durch zwei Elemente gebildet: Der spitze Kirchturm des Dorfes und vor allem die die dunkle, wie eine Flamme nach oben züngelnde Form, könnte ein Baum sein, wirkt aber wie die natürliche Begrenzung des Sehfeldes durch das Nasenbein, wenn man nur mit dem rechten Auge sieht.
zur psychosozialen Situation des Künstlers
Sternennacht wurde gemalt, als Vincent sich in der psychatrischen Anstalt in Saint-Rémy befand und sein Verhalten zu dieser Zeit war, wegen der Schwere seiner Anfälle, sehr unberechenbar. Anders als die meisten von Van Goghs Arbeiten, wurde Sternennacht aus der Erinnerung heraus gemalt und nicht im Freien, wie es Vincent bevorzugte. Das könnte, teilweise, erklären, warum die emotionale Wirkung des Werkes soviel stärker ist, als bei vielen von Van Goghs anderen Werken aus der gleichen Periode.
kulturelle und geistige Voraussetzungen
a) Religion
Einige haben Vermutungen über die elf Sterne im Gemälde geäußert. Während es der Wahrheit entspricht, dass Vincent 1889, als er das Werk malte, nicht die gleiche religiöse Leidenschaft besaß, wie in früheren Jahren, besteht die Möglichkeit, dass die Geschichte von Joseph im alten Testament Einfluss auf die Komposition des Werkes hatte.
„Siehe, ich habe einen Traum gehabt: Mich deuchte, die Sonne und der Mond und elf Sterne verneigten sich vor mir.” Genesis 37:9
b) Wissenschaft
Van Gogh malte physikalisch perfekte Turbulenzen
Dass Kunst und Wissenschaft nahe beieinander liegen, haben Physiker nun im Fall Vincent van Goghs einmal mehr belegt: Die chaotischen Wolken- und Lichtwirbel in einigen seiner Gemälden entsprechen den physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Turbulenzen.
Untersucht haben die Wissenschaftler rund um Jose Luis Aragón von der University of Mexico in Queretaro die Bilder "Sternennacht", "Straße mit Zypresse und Stern" und "Weizenfeld mit Krähen".
Sie alle stammen aus einer Schaffensperiode, in der sich van Gogh in einem psychotischen Ausnahmezustand befand, halluzinierte und wiederkehrende Ohnmachtsanfälle erlitt.
Die Studie von Jose Luis Aragón zeigt, dass van Goghs turbulente Wirbel einem, vom russischen Mathematiker Andrei Kolmogorov in den 1940er Jahren entwickelten Modell für turbulente Strömungen gehorchen.
Quelle: ORF-Science News
Umbrüche - Parallelen in Wissenschaft und Kunst
"Am Anfang des 20. Jahrhunderts kam den Physikern plötzlich ihr Gegenstand abhanden. Das Atom verschwand, als sie es ergreifen wollten. Zwar meinten viele Wissenschaftler, längst bewiesen zu haben, dass es die kleinsten Bausteine der Materie namens Atome wirklich gab, und auch hatte Albert Einstein einen wunderbaren Weg gefunden, um ihre Zahl genau zu bestimmen. Doch als man ihn dann ging, kam alles anders.
Als man im Innersten der Welt eintraf, stellte sich heraus, dass dort nichts so ist, wie man meint. Da gibt es nichts, was so aussieht wie die Dinge aus dem Alltag. Wer auf ein Atom erst zu- und dann in es hineingeht, findet dort keine Gegenstände mehr, die erkennbar auf festen Bahnen unterwegs sind wie die Bälle, mit denen ein Artist im Zirkus jongliert. Die Atome und ihre Teile zirkulieren anders, und wahrnehmbar werden sie nur durch ein Gewoge von Energie, das Wissenschaftler nur deshalb verstehen können, weil es sich in symmetrischen und deshalb berechenbaren Formen abspielt. Wenn man diesen physikalischen Tatbestand mit anderen Worten ausdrücken will, kann man sagen, dass die Dinge in Wirklichkeit gar keine Dinge, sondern Formen sind. Und mit dieser Einsicht kann man das tiefe Geheimnis lüften, das bis heute die Kunst des 20. Jahrhunderts umhüllt. Die Frage lautet, "Warum malen die Künstler abstrakt?", und die Antwort heißt, "Weil die Wirklichkeit so ist."
Indem van Gogh (sichtbar werdende) Dinge durch (unsichtbar bleibende) Formen erfasst, wird er zu einem Vorgänger der Stilrichtung, die in der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts auftaucht und als Kubismus bekannt ist. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählen Georges Braque und Pablo Picasso. Kubistische Bilder lassen sich durch Formen erkennen, die aus dem Geometrieunterricht aus der Schule vertraut sind. Die Welt wird zerlegt in Kreise, Winkel, Dreiecke und kompliziertere Figuren, und die Gemälde scheinen dem Betrachter sagen zu wollen, Alles ist eine Frage der Geometrie."
Ernst Peter Fischer
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Camille Flammarion (Holzschnitt, Ende 19. Jahrhundert)
Willi Baumeister, Gesto Cósmico (Öl auf Leinwand, 1950)
Robert Delaunay. Simultaneous Contrasts: Sun and Moon. Paris 1913 (dated on painting 1912). Oil on canvas, 53" (134.5 cm) in diameter. Mrs. Simon Guggenheim Fund
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